Jede vierte Frau ist von Gewalt in den eigenen vier WŠnden betroffen.
Sie ist unsichtbar und trifft jede vierte Frau: Gewalt in den eigenen vier WŠnden. Aus Angst, Scham und weil es noch zu viele LŸcken im Hilfssystem gibt, holen sich nur wenige Frauen Hilfe und schaffen es, dem Gewaltkreislauf zu entkommen.
Erst schubste er sie, dann spuckte er ihr ins Gesicht, beschimpfte sie und sagte, sie sei selbst schuld daran. Angefangen hatte damals alles, weil sie eine halbe Stunde spŠter als verabredet nach Hause kam und er angeblich eifersŸchtig war. SpŠter gab es auch Tritte und er drohte damit, den Hund zu verprŸgeln, wenn sie sich nicht endlich zu benehmen wŸsste. Danach entschuldigte er sich und versprach, es nie wieder zu tun. Jahrelang blieb im Verborgenen, was ihr Mann Susanne M. antat: hŠusliche Gewalt.
Die Geschichte von Susanne M. ist erfunden, aber sie ist die Geschichte vieler Frauen. Und sie ist brutal, verachtend, entwŸrdigend. HŠusliche Gewalt hinterlŠsst nicht nur Narben und Wunden am Kšrper, sondern vor allem in der Seele, weil sie an einem Ort stattfindet, der uns Schutz und Geborgenheit geben sollte: im eigenen Zuhause. Sie kann auf kšrperlicher, psychischer und sexualisierter Ebene oder aus škonomischer Gewalt bestehen, wenn die Frau finanziell abhŠngig von ihrem Partner ist oder Angst hat, bei einer Scheidung ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlieren. Meistens erleben die betroffenen Frauen mehrere Gewaltformen gleichzeitig.
Jede vierte Frau in Deutschland wird mindestens einmal in ihrem Leben Opfer kšrperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder frŸheren Partner. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) stuft Gewalt gegen Frauen als weltweit hŠufigste Verletzungshandlung gegen Frauen ein. Jeden dritten Tag ermordet ein Mann in Deutschland seine Frau, Freundin oder Ex. Was in den Statistiken erst gar nicht auftaucht, sind Suizide, die die Frauen aus Scham begehen oder weil sie keinen anderen Ausweg sehen aus der tŠglichen Hšlle aus Gewalt und Drohungen. Auch MŠnner sind von hŠuslicher Gewalt betroffen, aber in vier von fŸnf FŠllen sind die Opfer weiblich.
Trotz der systematischen BrutalitŠt, Erniedrigung und Misshandlung, teilweise Ÿber viele Jahre hinweg, bleibt ein Drittel aller betroffenen Frauen in den Beziehungen. Hier setzt die Arbeit von Opferberaterin und TraumapŠdagogin Henrike KrŸsmann von der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG) an. Das Ziel: Frauen aus gewalttŠtigen Partnerschaften raushelfen und ihnen eine neue Perspektive bieten. Koordinatorin Henrike KrŸsmann und ihre Kolleg*innen informieren die Betroffenen Ÿber Hilfen und vermitteln PlŠtze in FrauenhŠusern.
Doch oft ist es zunŠchst eine der Aufgaben der Berater*innen, bei den betroffenen Frauen ein Bewusstsein dafŸr zu schaffen, in welchem Gewaltkreislauf sie stecken und dass sie ein Recht auf Hilfe und UnterstŸtzung haben: ãDie Frauen geben sich an den GewalttŠtigkeiten oft selbst die Schuld, weil der Gedanke leichter auszuhalten ist und sie so das GefŸhl haben, sie kšnnen etwas verŠndern und Einfluss darauf gewinnenÒ, erklŠrt KrŸsmann. ãUnd weil sie ihre Partner auch liebevoll kennen und schšne Erinnerungen an eine gemeinsame Zeit haben." Die Frauen stecken in einem Kreislauf aus Gewalt und Reue des TŠters, der bei ihnen immer wieder die Hoffnung schŸrt, es kšnne wieder alles gut werden. Die Erfahrung zeigt aber, dass die meisten MŠnner, die einmal zugeschlagen haben, es wieder tun werden. Meist steigt dann auch die IntensitŠt der Gewalt an.
Es ist ein Teufelskreislauf, den nur wenige Frauen durchbrechen. Die meisten schaffen es nur, sich zu trennen, wenn sie alleine leben (31 Prozent) oder die Gewalt zu stark wird und Kinder mitbetroffen sind (36 Prozent). Statistisch gesehen braucht eine Frau bis zu sieben AnlŠufe, bis sie die Beziehung verlŠsst. Drohungen von den Partnern, sie wŸrden sie Ÿberall finden, oder die Angst, dass ihnen niemand Glauben schenken wird, bringt die Frauen dazu, bei ihren Partnern zu bleiben. ãSind Kinder im Spiel, haben die MŸtter gro§e Angst vor einem sozialen Abstieg und dass ihnen die Kinder vom Jugendamt weggenommen werdenÒ, sagt Henrike KrŸsmann. Viele der Frauen waren jahrelang finanziell abhŠngig von ihrem Partner und wissen nicht, wie sie sich mit den wenigen Mitteln, die sie besitzen, eine Wohnung leisten kšnnen. Partnerschaftsgewalt zieht sich aber durch die gesamte Gesellschaft. ãWir haben festgestellt, dass Frauen in hšheren Bildungs- und Einkommensschichten nicht seltener von schwerer Partnergewalt betroffen sindÒ, sagt Monika Schršttle, die 2004 die einzige nationale reprŠsentative Dunkelfeldstudie zu dem Thema vorgelegt hat. In welchem sozialen Umfeld die Frauen auch leben, fŸr Henrike KrŸsmann ist eine Sache klar und wichtig: ãDie Frauen schaffen es nur raus, wenn sie auf ein gutes Hilfesystem treffen und UnterstŸtzung findenÒ.
Melden sich die Frauen bei Henrike KrŸsmann, ist eine schnelle Beratung und Hilfe wichtig. Doch genau hier ist der Haken: Die BIG-Hotline ist zwar tŠglich von 8 bis 23 Uhr besetzt, auch an den Wochenenden und an Feiertagen, aber †berlastungen an der Hotline sind keine Ausnahme. Die Berater*innen sind zu wenige, die Frauen erreichen oft niemanden oder mŸssen zu lange in der Warteschleife warten.
Seit Corona steigen die Anfragen, nicht nur bei der BIG in Berlin. Jutta Dreyer leitet das Lebenslagen-Coaching des pme Familienservice, das neben Beratung und Coaching bei beruflichen und privaten Problemen auch psychologische Hilfe in akuten Krisensituationen anbietet. Die systemische Familientherapeutin hat ebenfalls den Eindruck, dass dieses Jahr mehr Paare Ÿber Streit und Handgreiflichkeiten zuhause berichten: ãDie eingeschrŠnkte Bewegungsfreiheit wŠhrend des Lockdowns hat bei vielen Paaren zu gro§em Stress und Spannungen gefŸhrt, die dann in Streit, Beleidigungen und schlimmstenfalls in Gewalt mŸnden. Vor allem Paare und Familien, die schon zuvor Probleme hatten, stehen jetzt unter gro§em Druck, der au§erhalb des eigenen Heims kein Ventil mehr findet, zum Beispiel beim Sport oder bei persšnlichen Treffen mit anderen. Auch spielt Alkohol sicher eine Rolle, denn wŠhrend des Lockdowns ist der Konsum bei vielen gestiegen. Vielleicht melden sich nun aber auch mehr Frauen und trauen sich schneller Hilfe zu holen, weil das Thema einfach sichtbarer geworden ist in der Corona-Pandemie. Auch Nachbarn schauen nun eher hinÒ.
Nicht nur die Beratungsarbeit fŸr gewaltbetroffene Frauen steht vor enormen Herausforderungen, auch die FrauenhŠuser. Das Problem: Sie sind voll, und das nicht erst seit dem Ausbruch des Coronavirus. Seit Jahren schon beklagen die Mitarbeiter*innen, dass sie den betroffenen Frauen zu wenig PlŠtze anbieten kšnnen und jedes Jahr Hunderte hilfesuchende Frauen und deren Kinder an den TŸren wegschicken mŸssen. ãIn Berlin mŸssen Frauen und ihre Kinder teilweise bis zu ein Jahr und lŠnger im Frauenhaus verbleiben, weil der Wohnungsmarkt keine entsprechend bezahlbaren Wohnungen zu bieten hat und die Frauen nicht wissen, wohin sie sollenÒ, sagt KrŸsmann.
VerlŠssliche Zahlen, ob die Anfragen bei den Beratungsstellen und FrauenhŠusern seit der Corona-Pandemie Anfang des Jahres gestiegen sind, gibt es noch nicht. Bundesfamilienministerin Giffey forderte aber bereits im MŠrz 2020 die LŠnder auf, Hotelzimmer und Ferienwohnungen als Orte der Zuflucht anzumieten, um die FrauenhŠuser wŠhrend des Lockdowns zu entlasten. Michael Kunkel ist Berater an der Lebenslagen-Hotline des pme Familienservice in Frankfurt am Main und musste die Erfahrung machen, dass es auch weiterhin an passenden Unterbringungsmšglichkeiten fehlt: ãIch war fŸr eine Klientin mit einem vierjŠhrigen Kind auf der Suche nach einem sicheren Ort. Die FrauenhŠuser im Umkreis waren alle belegt. †ber die zentrale Hotline konnte mir auch kein Platz angeboten werden, ich musste die FrauenhŠuser einzeln abtelefonieren. Wir haben schlie§lich einen Platz in einem Frauenhaus gefunden, allerdings knapp 70 km entfernt, also nicht in Arbeitsplatz- und Kita-NŠhe. Es mŸsste gewŠhrleistet sein, dass Betroffene und ihre Kinder sofort eine passende Hilfe bekommenÒ.
Mehr Personal an den Telefon- und Beratungshotlines, mehr UnterkŸnfte fŸr Frauen und ihre Kinder: Das Gute an der Coronakrise ist, dass diese Forderungen jetzt auf offene Ohren sto§en. Normalerweise gibt es fŸr das Thema hŠusliche Gewalt immer genau einmal im Jahr viel Aufmerksamkeit, wenn am 25. November der weltweite Aktionstag ãGewalt gegen FrauenÒ begangen wird. In diesem Jahr, als Menschen ihre Wohnung nicht verlassen sollten, um die Ansteckungsgefahr zu minimieren, rŸckt hŠusliche Gewalt wieder stŠrker in die šffentliche Wahrnehmung: in politischen Debatten, in Zeitungsartikeln, auf Werbeplakaten. Die Initiative #sicherheim zum Beispiel klŠrt mit einer bundesweiten Kampagne Ÿber hŠusliche Gewalt auf.
Henrike KrŸsmann begrŸ§t, dass das Thema jetzt šffentlich stŠrker diskutiert wird und die Menschen dafŸr sensibilisiert werden. Aber sie gibt auch zu bedenken, dass hŠusliche Gewalt zu lange aus der šffentlichen Wahrnehmung verschwunden gewesen sei. ãDie letzte Studie zu hŠuslicher Gewalt entstand im Jahr 2014. Warum es keine mehr danach gab, lŠsst sich nur damit erklŠren, dass das Thema offenbar gesellschaftlich nicht relevant warÒ. Das Virus wird irgendwann aus der šffentlichen Debatte verschwunden sein, die Wahrnehmung hŠuslicher Gewalt hoffentlich nicht.
Henrike KrŸsmann ist Koordinatorin der Bereiche Kinder und Jugendliche sowie tŠterorientierte Intervention bei BIG, der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen.
https://www.big-koordinierung.de
Quellen und Studien:https://www.berlin.de/sen/frauen/keine-gewalt/haeusliche-gewalt
Wir unterstŸtzen die Mitarbeiter*innen unserer Vertragskunden bei Problemen in den verschiedensten Lebenslagen Ð individuell, vertraulich, 24 Stunden am Tag Ð und bieten unmittelbare psychologische Hilfe in akuten Krisensituationen, beraten bei KindeswohlgefŠhrdung und vermitteln in FrauenhŠuser sowie zu weiterfŸhrenden Beratungsstellen und anderen UnterstŸtzungsmšglichkeiten.
Kontakt: Jutta Dreyer, Produktverantwortliche Lebenslagen-Coaching
E-Mail: jutta.dreyer@familienservice.de
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